Familiennachzug auch für Minderjährige, die im laufenden Asylverfahren volljährig geworden sind
Der EuGH hat mit Urteil vom 10.02.2018 entschieden, dass der Familiennachzug zu einem minderjährigen Flüchtling auch dann zu gewähren ist, wenn er während des laufenden Asylverfahrens volljährig geworden ist. Der EuGH hat dies vor dem Hintergrund einer ansonsten drohenden Ungleichbehandlung aufgrund unterschiedlicher behördlicher Bearbeitungsdauer des Asylantrages aus der Richtlinie 2003/86/EG („Familienzusammenführungsrichtlinie“) abgeleitet. Damit hat der EuGH sowohl die Rechtsauffassungen der Kommission, der polnischen sowie der niederländischen Regierung verworfen, die allesamt auf einen anderen – insgesamt für die Reichweite des Familiennachzug ungünstigeren – Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit abstellen wollten.
Der Familiennachzug ist innerhalb von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu beantragen.
Damit entspricht die deutsche Rechtslage (§§ 36 Abs. 1, 29 Abs. 2 AufenthG), die ausschließlich an das Vorhandensein eines Aufenthaltstitels des Minderjährigen anknüpft, nicht den Anforderungen der EuGH-Judikatur. Der Gesetzgeber muss demnach aktiv werden und eine entsprechende Übergangsregelung schaffen. Für die Zwischenzeit ist eine richtlinienkonforme Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG notwendig, um den europarechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Unter Umständen kann auch auf die Auffangklausel des § 36 Abs. 2 AufenthG zurückgegriffen werden.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat bereits auf die Rechtsprechung des EuGH reagiert und mit Beschluss vom 27.04.2017, Az. OVG 3 S 23.18, OVG 3 M 22.18, OVG 3 M 23.18, den Antragsstellern und Klägern, die Mutter und vier Geschwister eines in Deutschland anerkannten Flüchtlings, Prozesskostenhilfe gewährt. Es hat entschieden, dass die Rechtsprechung des BVerwG, wonach der Nachzugsanspruch der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG nur bis zu dem Zeitpunkt bestehe, zu dem das Kind volljährig wird (BVerwGE 146, 189), im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union der Überprüfung bedarf. Diese Überprüfung wird dann wohl im Hauptsacheverfahren erfolgen.
Der EuGH (Urteil vom 25.01.2018, EuGH C‑360/16) hat auf Vorlage des BVerwG (Beschluss vom 27.04.2016, BVerwG 1 C 22.15) entschieden, wie mit Asylbewerber/-innen umzugehen ist, die nach einer Überstellung im Rahmen der Dublin-III-VO wieder in das Bundesgebiet einreisen. Das BVerwG hatte zuvor über einen syrischen Staatsangehörigen zu entscheiden, dessen Asylantrag aufgrund der Zuständigkeit der italienischen Behörden als unzulässig abgelehnt worden war. Es erfolgte – nach erfolgter Zustimmungsfiktion – eine Überstellung an die italienischen Behörden. Der Asylbewerber kehrte allerdings wieder in die Bundesrepublik zurück. Das BVerwG wollte in dem Ausgangsverfahren sodann vom EuGH wissen, wie mit solchen Rückkehrern zu verfahren ist. Der EuGH hat die Frage dahingehend beantwortet, dass auch in solchen Fällen wegen Art. 24 Dublin-III-VO ein Wiederaufnahmeverfahren durchzuführen ist, so dass eine Abschiebung nicht ohne weiteres zulässig ist. Es gelten die allgemeinen Überstellungsfristen; diese beginnen allerdings erst dann zu laufen, wenn der ersuchende Mitgliedsstaat von der Rückkehr der betreffenden Person in sein Hoheitsgebiet Kenntnis erlangt hat. Wird innerhalb der Frist des Art. 24 Abs. 2 der Dublin-III-VO kein Übernahmegesuch gestellt, wird der Mitgliedstaat für die Bearbeitung des Asylantrages zuständig (Art. 24 Abs. 3 Dublin-III-VO). Allerdings muss der Asylbewerber einen neuen Antrag auf internationalen Schutz stellen; tut er dies nicht, kann der Mitgliedsstaat, in den der Asylbewerber unzulässig zurückgekehrt ist, ungeachtet des Fristenablaufs dem Mitgliedsstaat, in das der Asylbewerber ursprünglich überstellt wurde, ein Wiederaufnahmegesuch unterbreiten (vgl. Art. 24 Abs. 4 Dublin-III-VO). Eine vorherige Überstellung ist unzulässig.
Das BVerfG hat sich – diesmal im Fall Türkei – mit kürzlich veröffentlichten Beschluss wiederholt mit der Frage beschäftigt, welche Anforderungen an die Sachaufklärung des VG gestellt werden müssen, wenn eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 3 EMRK geltend gemacht wird.
Das BVerfG führt aus, dass “in Fällen, in denen die möglicherweise bestehende Gefahr, Folter oder unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt zu sein, in Rede steht, der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zukommt. Dies gilt insbesondere in Situationen, in denen sich der Betroffene auf eine in seinem Abschiebungszielstaat bestehende Foltergefahr beruft und für diese auch ernsthafte Anhaltspunkte bestehen.”
In solchen vom BVerfG entschiedenen Fällen geht es nie darum, ob ein Land per se sicher oder unsicher ist. Es ist vielmehr eine prozessuale Fallgestaltung. Kann etwa eine glaubhafte Zusicherung durch die ausländische Behörde erlangt werden, dass nicht gefoltert wird, dann ist die Klage gleichwohl abzuweisen.
Kann hingegen keine Zusicherung eingeholt werden oder ließen sich Verdachtsmomente für eine Menschenrechtsverletzung nicht ausräumen, ist ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auszusprechen.
In einem am 12.01.2018 veröffentlichten Beschluss hat sich das BVerfG zu der praxisrelevanten Frage geäußert, in welchen Fällen die Vorlageverfahren zum EuGH von anderen Gerichten im eigenen (Eil-)Verfahren berücksichtigt werden können und müssen.
In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren hatte die Beschwerdeführerin gerügt, dass das Verwaltungsgericht die Vorlageverfahren des VGH Baden-Württemberg und des BVerwG – jeweils in einer anderen Rechtssache – nicht berücksichtigt hatte.
Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde schon nicht zur Entscheidung an und entschied, dass ein fremdes Vorlageverfahren nur dann Berücksichtigung finden kann, wenn man selbst durch einen substantiierten Tatsachenvortrag dargelegt hat, dass die Vorlagefrage auch in eigenem Verfahren entscheidungserheblich ist, so dass “eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den EuGH im Hauptsacheverfahren […] erforderlich ist.”
Aus diesem Grund sollte man mit Hinweisen auf fremde Vorlageverfahren vorsichtig sein. Ist allerdings eine Fallgestaltung gegeben, die mit dem vorgelegten Fall ähnlich ist, so kann eine Nichtbeachtung des Gerichtes zu einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG führen; dies gilt auch im Eilverfahren:
“Stellt sich bei […] der Rechtsprüfung eine entscheidungserhebliche unionsrechtliche Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenen Gerichts an den EuGH erfordert […], so gebietet Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, dies im Eilverfahren bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu berücksichtigen. Regelmäßig wird dann jedenfalls die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes […] nicht bejaht werden können.
Die Entscheidung zeigt abermals, wie wichtig ein substantiierter Sachvortrag für den Erfolg eines Verfahrens ist.
Der Generalanwalt beim EuGHYves Bot hat dem EuGH vorgeschlagen, Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 dahingehend auszulegen, dass eine Person, die in der Vergangenheit in ihrem Herkunftsland gefoltert wurde, nicht schon deshalb einen Anspruch auf subsidiären Schutz habe, weil es in diesem Land keine psychologische Betreuung gibt.
Dem Fall lag der Asylantrag eines Sri-Lankers zu Grunde, der der Organisation „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ angehört habe und dann von sri-lankischen Sicherheitskräften inhaftiert und gefoltert worden sei. Zwar drohe im bei Rückkehr keine Misshandlung oder Folter mehr, allerdings böte das sri-lankische Gesundheitssystem keine ausreichende Versorgung von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen, an denen der Asylbewerber leide.
Allein dies reiche nach Ansicht des Generalanwaltes allerdings nicht aus, um subsidiären Schutz zu gewähren. Dies überdehne sonst die Reichweite des Schutzstatus.
Sollte der EuGH ebenfalls zu dieser Auslegung gelangen, hat dies aufgrund des Grundsatzes der richtlinienkonformen Auslegung deutscher Normen Auswirkung auf die Handhabung des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG.
Zwar bindet der Antrag des Generalanwaltes den EuGH nicht, in den meisten Fällen folgt der EuGH aber im Wesentlichen diesem Antrag.
Auf Vorlage des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes (vgl. Art. 267 Abs. 3 AEUV) hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 25.10.2017 (Az.: C-201/16) entschieden, dass die Zuständigkeit nach Dublin-III-VOnach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist – auch bei weiterer Wiederaufnahmebereitschaft des angefragten Mitgliedsstaates – auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht und der Asylbewerber sich hierauf berufen kann.
Dem Fall lag der Asylantrag eines iranischen Staatsangehörigen in Österreich zugrunde. Der Asylbewerber war über Bulgarien nach Österreich eingereist, so dass die österreichischen Behörden ein Dublin-Verfahren einleiteten. Bulgarien hatte der Wiederaufnahme zugestimmt. Allerdings wurde der Asylbewerber innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht nach Bulgarien überstellt.
Der EuGH, der zur Auslegung des Unionsrechts berufen ist, hat nun entschieden, dass sich aus dem Wortlaut und der Zielsetzung der Dublin-III-VO, eine zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu gewährleisten, ein Übergang der Zuständigkeit auf den aufnahmeersuchenden Mitgliedsstaates von Rechts wegen ergebe, wenn die Überstellung nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist durchgeführt wird, ohne dass es erforderlich ist, dass der zuständige Mitgliedsstaat die Verpflichtung zur (Wieder-)Aufnahme der betreffenden Person ablehnt.
Ferner hat der EuGH festgestellt, dass die Person sich auf den Ablauf der Frist berufen könne. Nach Ablauf der sechsmonatigen Frist ist eine Überstellung unzulässig. Die Behörden seien von Amts wegen dazu verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die auf sie übergangene Zuständigkeit anzuerkennen und unverzüglich mit der inhaltlichen Prüfung des Asylantrages zu beginnen.
Schließlich – so der EuGH – müssten die Mitgliedstaaten einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf zur Geltendmachung des Fristablaufs zur Verfügung stellen.
Das BVerwG lässt die Frage nach einem subjektiven Recht des betroffenen Asylbewerbers etwas offener und formuliert in ständiger Rechtsprechung, dass sich der Betroffene jedenfalls dann auf den Ablauf der Frist berufen kann, wenn die (Wieder-)Aufnahmebereitschaft des ersuchten Mitgliedsstaates nicht positiv feststeht (zuletzt BVerwG, Urt. v. 9.8.2016 – 1 C 6/16 sowie Urt. v. 27.4.2016 – 1 C 24/15). Der EuGH hat diese Frage unionsrechtlich nunmehr geklärt und dahingehend entschieden, dass es auf die Wiederaufnahmebereitschaft gar nicht ankommt.
Da die Entscheidungen des EuGH über den Einzelfall hinaus die mitgliedstaatlichen Gerichte binden, wird dies in der deutschen Judikatur zu berücksichtigen sein.
Das BVerfG hat im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens erstmals Stellung zu der Frage genommen, ob der Ausschluss des Familiennachzuges für subsidiär Schutzberechtigte nach § 104 Abs. 13 AufenthG verfassungsgemäß ist.
Zwar hatten die Antragssteller im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keinen Erfolg, allerdings geht das Gericht nicht davon aus, dass die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet ist. Damit hätte es in der Hauptsache zu klären gehabt, ob der Ausschluss mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist. Das Gericht gibt in seinem Beschluss ferner bekannt, dass “[i]n diesem Rahmen auch von Bedeutung sein [kann], inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung zu tragen ist, insbesondere auch dann, wenn die besondere Härte durch Umstände in der Person des subsidiär Schutzberechtigten begründet wird.” (Rn. 12).
Das Gericht hat damit – dies ist klarzustellen – noch nicht inhaltlich entschieden, ob der Ausschluss des Familiennachzuges verfassungskonform ist, aber zu erkennen gegeben, dass es nicht ohne Weiteres von der Verfassungsmäßigkeit ausgeht. Dass der Eilantrag in diesem Fall abgelehnt worden ist, hatte ausschließlich verfahrenstechnische Gründe. Es sind derzeit noch weitere Verfassungsbeschwerden anhängig, so dass mit einer Entscheidung des BVerfG in dieser Frage zu rechnen ist. Wann allerdings die Entscheidung kommt, ist derzeit nicht absehbar.